Sarrazin-Lesung ungekürzt

Der andauernde Erfolg eines der (oder schon “des”) meistverkauften Sachbücher der letzten Jahrzehnte weckt  Neid und Missgunst, besonders bei Vertretern der schreibenden Zunft. Beim SPIEGEL wird die Entstehung des Buches als “Unfall” umgedeutet, und der Verlag und natürlich die 1,2 Mio. Leser im Nachhinein benörgelt und gerügt. In humorloser, korinthenköttelnder Manier besorgte das Jan Fleischhauer (Heft 51/2011, S. 40 ff.): “Zu erzählen ist die Geschichte eines Ungeheuers zwischen Buchdeckeln, das alle überwältig hat – den Autor, die Kritiker und erst recht den Verlag, der es freisetzte.”

Jan Fleischhauer. Sarrazin-Buch - verhängnisvoller Zufall; Quelle: wikimedia commons

Jan Fleischhauer. Sarrazin-Buch - "verhängnisvoller Zufall" (Bild-Quelle: Wikimedia Commons)

Fleischhauer zeichnet ein bejammernswertes Portrait des Chefs der DVA (Deutsche Verlagsanstalt), Thomas Rathnow, vom Erfolg des Buches “Deutschland schafft sich ab” völlig überrumpelt, ja gezeichnet. “Er will sich nicht öffentlich von dem Autor distanzieren, der ihm so viel Geld einbringen wird, dass er davon schlecht verkäufliche Bücher finanzieren kann. Aber er schafft es auch nicht, den Text richtig zu verteidigen.”

Dumm für den Spiegel, dass der DVA-Chef den Pudding macht und sich nicht an die Wand nageln lässt. Ist doch eigentlich auch nicht nötig nach den Verkaufszahlen. Fleischhauer beklagt Rathnows Interviewverweigerung und sein Sträuben, sich von dem eigenen  Bestsellerautor zu distanzieren. Wenn der Spiegel jemanden zur öffentlichen Selbstgeißelung und Selbstbezichtigung bittet, muss man als Verlagschef dem Begehren doch mannhaft Folge leisten, dachte sich Fleischhauer wohl. Wenn nicht, nun, so muss es sich bei dem Buch um “die Geschichte eines verhängnisvollen Zufalls” handeln. Jaja, doch doch, und jetzt beginnt die Spiegelgeschichte vor falschem Mitleid zu triefen: “Ein Griff, von dem andere Verleger ein Leben lang träumen und der ihm [Rathnow] nun den Schlaf raubt. Ein Lektor hatte Sarrazin in einer Talkshow gesehen und draufhin angeschrieben, ob man nicht  einmal reden wolle. Niemand habe ahnen könne, was daraus wird, sagt Rathnow erschöpft. Den Namen des Kollegen möchte er lieber nicht nennen, der Mann will sich nicht auch noch in der Presse wiederfinden.

Der Verlag habe sich eigentlich einen Text über den deutschen Sozialstaat gewünscht. “Von Ausländern sei am Anfang nie die Rede gewesen, sagt der Verleger” … Und so nahmen die Erschröcklichkeiten ihren verhängnisvollen Verlauf.

Der Interviewer, ein verkappter Chefankläger, dem Interviewten fehlt jedes Zeug zum Widerstandskämpfer, da kommt Mitleid auf, unversehens assoziiert man zwei Weicheier beim Eiertanz, das kann nicht gut gehen!

“Lange sah es so aus, als ob sich die Dinge normal entwickeln würden”. Und dann geschah das Furchtbare: Der Sachbuchlektor der DVA war mit anderen Dingen beschäftigt, und so wurde das Manuskript an “eine freie Lektorin in Berlin” gegeben. Womit Fleischhauer einen wichtige Spur gesichert hat, des Gedankenverbrechens oder zumindest des “Ungeheuers”.

Am 25. August dann die ersten Vorabdrucke bei BILD und beim SPIEGEL, spätestens jetzt “weiß Rathnow, dass er sich mit dem Text, den er verlegt hat, vielleicht doch ausführlicher hätte beschäftigen sollen.” Dann folgt der berüchtigte Merkel-Kommentar, das Buch sei “nicht hilfreich.” Und weiter: “Das ist das Signal für eine Verdammung, der sich fast die gesamte politische Klasse anschließt.”

An dieser Stelle hätte wahrer Journalismus sich fragen müssen, mit welchen reflexartigen Selbstzensurmechanismen wir es in der gesamten politischen Klasse eigentlich zu tun haben, die dazu führen, dass sich unsere politischen Führer jenseits von Parteigrenzen binnen Stunden auf eine Sprachregelung einigen und ein Buch verdammen, das sie gar nicht gelesen haben können. Dieser Abgrund an Oberflächlichkeit und Gleichgeschaltetheit wäre eigentliches Thema von Vollblutjournalismus. Spießiger, denunziatorischer, blabaistischer Journalismus dagegen versagt logischerweise fortgesetzt angesichts eines Buches, das  Schicksals- und Zukunftsfragen unseres Landes behandelt.

Fleischhauers Chronik des Schreckens: “Im Verlag setzt Panik ein. Die Mitarbeiter werden darauf angesprochen, wie sie ein solches Buch machen konnten. Man hat Sorge, dass sich Autoren abwenden. Es passieren immer neue Fehler.” Das Sarrazin-Buch also als eine einzige Kette von Fehlern und Misverständnissen.

Immerhin ist die Antwort auf die Frage, warum einer ein solches Buch schreibt, interessant. Zitiert wird ein Freund Sarrazins: “Zorn auf die Politiker, die dem Land so viel Schaden zugefügt haben.”

Genau das dürfte der Grund für den anhaltenden Verkaufserfolg des Buches sein.

Wer sich einmal aus erster Hand informieren möchte und das Sarrazin-Buch noch nicht gelesen hat, der klicke den nachfolgenden Vortrag an, der bei Minute 10:20 beginnt.

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4 Antworten zu “Sarrazin-Lesung ungekürzt”

  1. Föhnix sagt:

    Ich krieg’ überall Pickel.

  2. Eska sagt:

    Genial. Stoibern in Zeitlupe. Eine echte deutsche Kulturleistung.

  3. Friederike Beck sagt:

    Ist klar, was Sie meinen: Sarrazin leidet seit einer OP in der Nähe des Facialisnervs an einer rechtsseitigen Gesichtslähmung, die sich auch im Bereich der Zunge bemerkbar macht. Das führt dazu, dass seine Zuhörer durch einen Vortrag durch müssen, der nicht gerade ein akustischer Leckerbissen ist. Dass es aber trotzdem ein riesiges Publikum in ausverkauften Hallen auf sich nimmt, dem zuzuhören, zeigt was für ein Gesprächsbedarf besteht.

  4. kochstudio sagt:

    Eine Säule des imperialistischen Systems philosophiert über Religion und Einwanderung. Sind schon die geistigen Fehltritte wie vererbbare Intelligenz kaum zu ertragen, wird es richtig grausam, wenn man Sarrazins Weltanschauung offen legt.
    Wie einfältig er doch das ‘gute’ Christentum und mit unserer ‘paradiesischen’ Demokratie verwebt.
    Aber sicher, es wird ein herber Verlust für die Welt nicht mehr am deutschen Wesen genesen zu können….

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