Die Ballade von der Kalbin

Mein liebster Held der Wirklichkeit ist zur Zeit eine Kalbin:

Sie war kurz nach Weihnachten vor einer Metzgerei in Kreuth vom Viehtransporter geflohen und in die Freiheit gerannt, in die Berge, hoch hinauf ins Wallberg-Setzbergmassiv, weit weg. Dort überlebte sie bei minus fünfzehn Grad wochenlang, Tag für Tag.

An einer Futterstelle für Rotwild in 1200 Meter Höhe stibitzt sie Heu. Zuerst traut sie sich nicht recht und beäugt die Hirsche und Hirschkühe sehr scheu. Dann sucht sie Wasser und haut mit ihrem Huf ein kleines Loch in die Eisdecke eines zugefrorenen Brunnens vor einer Holzknechthütte, um trinken zu können.

Sie lässt sich nicht fangen und nur bei Nacht und Neumond steigt sie herab zum Kreuther Forsthaus und hinterlegt dort einen Kalbinnenfladen und kehrt dann wieder auf den Berg in den Hirschwald zurück.

An den Rotwildfutterraufen mischt sie sich ganz langsam unter das Rudel und verlangt den Platzhirschen Respekt ab, denn auch die Sechzehnender merken: sie haben es nicht mit einer gewöhnlichen, sondern mit einer ganz besonderen Kalbin zu tun, und so treten die Geweihten schweigend zur Seite, wenn die Kalbin einen Heuballen für sich beansprucht. Die mächtigen Hirsche betrachten sie scheu und neigen ehrfurchtsvoll ihr Geweih und machen ihr Platz.

Die Kalbin wird immer mehr zu einem Wildrind, und ein Jäger beobachtet sie, wie sie den Kopf hebt und mit geblähten Nüstern die Witterung aufnimmt. Trittsicher wird sie wie eine Gemse, und obwohl sie kaum gewohnt war zu gehen, lernt sie mit ihren Hufen an vereisten Steilhängen zu stehen und nicht abzustürzen.

Die Kalbin trotzt der Kälte und äst im Schnee und käut wieder bei einem vereisten See. Die Jungkuh widerlegt damit alle Menschen, die meinen, das könnte nur ein Reh, oder sie sei dumm und könne nur in einem intensivstationartigen Stall überleben.

Die Kalbin hat uns allen gezeigt: Freiheit ist wichtiger als trügerische Sicherheit. Denn der Tod ist uns bekanntlich besonders sicher. Ein dummes Rindvieh ist in Wirklichkeit schlau und hat das viel klarer erkannt als wir, und ist genau deshalb um sein Leben gerannt und hat uns allen bewiesen:

Die Kuh braucht uns nicht, aber wir brauchen die Kuh, und auch nach noch so vielen Generationen Stall hat sie noch immer einen angeborenen Freiheitsdrang. Die Tat der Kalbin spricht:

Ich hab ein Recht auf mein Leben, denn es wurde mir genau wie euch gegeben. MUH!

Nachspiel:

Natürlich konnte die Menschen das nicht länger mitansehen. Der Jäger weigerte sich aber, die Kalbin abzuschießen, das sei nicht mit dem waidmännischen Ethos vereinbar. Und so betäubte der Bezirkstierarzt schließlich mit einem Narkosegewehr die Kalbin, und sie wurde Anfang Februar auf das Gut Aiderbichl bei Deggendorf gebracht, einem Gnadenhof. Dort kann man die Kalbin aus dem Hirschwald besuchen und ihr seine Hochachtung aussprechen.

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2 Antworten zu “Die Ballade von der Kalbin”

  1. Сергей sagt:

    Даа… Пока это у нас не сильно развито, так что придётся чуть подождать.

  2. пятницa sagt:

    Давно искал такую инфу, Спасибо за Вашу работу.

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