Wildgänse (Tagebuchausriss)

26./27. Februar … gleichförmige Tage mit wenig Tiefgang, da ich im Moment diesen nicht zulasse. Er liegt dafür sehr oft während des Tages bis in die Abenddämmerung hinein in der Luft:

Ein charakteristisches heiseres Schreien und ein fernes Rauschen zwingen mich, magisch angezogen, an den unmöglichsten Stellen abrupt inne zu halten und nach oben zu starren, denn es ist ein Schauspiel auf der Himmelsbühne zu sehen, eintrittsfrei: Die Rückkehr der Zugvögel, der Wildgänse und Kraniche.

Offenbar ist die Gegend von Bonn am Rhein eine strategisch günstige, denn Zug auf Zug überquert seit gestern den Rhein und zieht nach Nordwesten. Phantastisch; Ordnung und Harmonie aufrechterhalten in stetiger Bewegung und lebendiger Wandlung. Ich beame mich in die letzte Gans des rechten Flugkeils und fliege mit ihr hinter meiner Vordergans. Ich überlege, dass sie die schwierigste Position hat, denn irgendeinen Grund wird es ja wohl haben, dass sie als letzte fliegt. Ich identifiziere mich gerade etwas zu stark mit ihr und empfinde irgendeine diffuse Parallele zu meinem Leben, die mich fast abstürzen lässt.

Ich konzentriere mich lieber auf das Weiterfliegen und stelle mir vor, wie die Gans oder ich versuchen, denn Anschluss nicht zu verpassen, denn hinter uns puscht niemand mehr; andererseits werden wir fast automatisch mitgerissen in der Flugrinne, und unser Wille wird zum großen Willen des Geschehens „Fliegen zum Ziel“.

Die Spitzengans hat es vielleicht am einfachsten: Sie ist Impulsgeberin, sie hält die Richtung, die Bewegung und das Ziel. Sie muss die Energie und den Willen zum Ziel all ihrer Artgenossen hinter sich wie eine fast unerschöpfliche Treibstoffladung spüren, mit der es ihr leicht fällt, den großen Gedanken festzuhalten.

Und plötzlich werde ich irgendwie kleinlaut und fast neidisch. Neidisch darauf, dass diese Wesen es jedes Jahr zweimal schaffen, was Menschen oft ihr ganzes Leben nicht zustande bringen: Ans Ziel zu kommen. Jedes einzelne kommt in einer grandiosen, gemeinschaftlichen Flugleistung mit Hilfe hunderter Fluggefährten ans Ziel. Die Spitze ist ein wie mit einem Himmelslineal gezeichnetes V, dahinter geht es in einer lustvollen Anstrengung, so würde ich die kräftigen Schreie werten, etwas kunstvoll-leichter weiter.

Die Wildgänse wollen etwas, jede einzelne und alle zusammen und schaffen es auch in einer einzigen, zielgerichteten Bewegung: Der Wille am Himmel.

Ich möchte etwas und komme oft überhaupt nicht ans Ziel oder tausend Jahre später, will mir scheinen. Aber klar, meinen Willen sollte ich nicht mit dem starken Willen einer Wildgans oder eines Kranichs vergleichen, die es schaffen, nur einen klaren Gedanken zu fassen und diesen auch wochenlang zu halten, während ich hunderte gleichzeitig habe und nur manchmal einen zu Ende denke; und schon gar nicht erwarte, dass jemand anderes zufällig einen ähnlichen klaren Gedanken fasst.

Dennoch, als Idealbild sollte ich mir diesen Anblick nicht vermiesen. Was wäre, wenn eine Gruppe, Gemeinschaft oder gar Gesellschaft einfach nur einen klaren Gedanken hätte und ihn festhalten würde?

***

Inspiratives aus luftiger Höhe:

  • Nomaden der Lüfte (2 DVDs)
  • Stephane Durand/Guillaume Poyet: Das Geheimnis der Zugvögel (Buch)

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2 Antworten zu “Wildgänse (Tagebuchausriss)”

  1. нeвecтa sagt:

    Очень даже любопытно. В особенности третье.

  2. кaпpиз sagt:

    Приятно думать, что остались действительно интересные блоги в этой мусорке рейтинга Яши. Ваш – один из таких. Спасибо!

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