Vaclav Klaus inszenierte sich als letztes Bollwerk gegen Lissabon und alleiniger Verfechter von Freiheit und Demokratie in Europa. Dennoch gab er selbst zu: „Ich war es, der den EU-Aufnahmeantrag 1996 übergab und der den Beitrittsvertrag 2002 unterzeichnete.“ (Teil 1…) Sollte er tatsächlich nicht gewusst haben, was auf ihn zukam? „Aber die Abkommen innerhalb der EU haben viele Alternativen. Eines davon [den Lissabon-Vertrag, Anm.d.Aut.] als sakrosant, unantastbar anzusehen, an dem man nicht Zweifel anmelden oder Kritik üben kann, ist gegen den eigentlichen Charakter Europas.“
Wer ist Klaus? Der 1941 geborene Prager ist eigentlich Wirtschaftswissenschaftler, er komplettierte seine Studien in den 1960er Jahren unter dem sozialistischen Regime der CSSR in Italien und den USA. Danach arbeitete Klaus im akademischen Rahmen und bei der tschechoslowakischen Zentralbank. Er fiel nie als eigentlicher Dissident auf. 1989 wurde er tschechoslowakischer Finanzminister, von 1992-97 war er tschechischer Ministerpräsident, 2003 dann Staatspräsident. Vor allem drei Dinge sind mit Klaus verbunden: Die Trennung von der Slowakei (1993), die keineswegs unumstritten war, die Einführung einer freien Marktwirtschaft und der EU-Beitritt Tschechiens. Überdies ist Klaus ein überzeugter Transatlantiker, weswegen er sich auch für die Stationierung des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Tschechien einsetzte und keine Probleme mit einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland hatte.
Klaus hängt dem Neoliberalismus an und setzte sich in Tschechien ausdrücklich für die Einführung der freien, nicht der sozialen, Marktwirtschaft ein. Der Margaret-Thatcher-Freund ist Mitglied der Mont Pelerin Gesellschaft, ein Bund von Wirtschafttheoretikern, die das Andenken von Milton Friedman und Friedrich August v. Hayek hochhalten. Die Mont Pelerin Society (MPS) sorgt sich insbesondere darüber, dass es einen zu starken Staat geben und dass die Sozialleistungen und der Einfluss der Gewerkschaften ausufern könnten. Allesamt sind dies altbekannte, neoliberale Leitgedanken, die seit über dreißig Jahren am lebenden Objekt ausprobiert werden. (Empfehlenswert in diesem Zusammenhang die kritische Würdigung von Naomi Klein: „Die Schock-Doktrin, der Aufstieg des Katastophen-Kapitalismus“.) „Freiheit“ versteht Klaus vor allem als Freiheit für Kapitalströme, Konzerne und Unternehmen, vom Staat unbehelligt zu bleiben. Die MPS ist sehr einflussreich und auf höchstem Niveau verlinkt. Sie hat beste Kontakte zu über 90 Denkfabriken.
Am 28.8.2005 sagte Klaus auf einem Treffen der Mont Pelerin Society in Island:
„Fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus habe ich mehr Angst als früher vor seiner weicheren (schwächeren) Version, dem Sozialdemokratismus, der unter vielen verschiedenen Namen wie Wohlfahrtsstaat oder soziale Marktwirtschaft, das beherrschende Modell des wirtschaftlichen und sozialen Systems der heutigen westlichen Zivilisation geworden ist. Es stützt sich auf eine große und gönnerhafte Regierung, auf weitreichende Regulierung des menschlichen Verhaltens und auf Einkommensumverteilung in großem Maßstab.“
Als illiberal und ebenfalls verkappt sozialistisch sieht Klaus verschiedenen Ismen bzw. Bewegungen an: Die Umweltbewegung, die radikale Menschenrechtsbewegung und die Bewegung der Zivilgesellschaft, der Feminismus, Multikulturalismus, Europismus. Alle wünschten eine Refeudalisierung der Gesellschaft, da sie Privilegien für bestimmte Gruppen wollten. Überall lauere eine Beschneidung von Freiheit und post-marxistischer Kollektivismus. Er warnt davor, das europäische politische System nicht zu zerstören durch eine „postmoderne Interpretation von Menschenrechten mit der Betonung auf positiven Rechten [durch Gesetzgebung entstanden, Anm.d.Aut.], der Betonung von Gruppenrechten- und ansprüchen über individuellen Rechten und Verantwortungen und mit der Denationalisierung der Staatsbürgerschaft.“
Und weiter: „Europa ist ein System von Beziehungen und Verbindungen individueller Länder, das nicht auf falschem Internationalismus gegründet sein darf, auf supranationale Organisationen und auf einem Missverstehen von Globalisierung und Außenbeziehungen, sondern das auf guter Nachbarschaft, freier, souveräner Länder und auf internationale Pakte und Abkommen gegründet sein soll.“
Vieles von dem, was Klaus sagt, hat durchaus seine Berechtigung. Aber auch wenn man Klaus’ Abneigung gegen staatliche Regulierung durch seine Erfahrung unter dem Sozialismus berücksichtigt und die Tatsache, dass die zitierte Rede von Reykjavik noch vor der Krise gehalten wurde, ist mir schlicht schleierhaft, wie Klaus behaupten kann, dass nur Gruppeninteressen und Kollektivismus eine Refeudalisierung bewirken würden.
Es gibt seit vielen Jahren Fakten, die belegen, dass gerade eine von den Staaten völlig unbehelligte Wirtschaft zu einem neuen Feudalismus führt, da nämlich Banken und Konzerne ganze Staaten als ihre Beute ansehen. Diese kann man ob ihrer faktischen Machtfülle und ihren Möglichkeiten durchaus mit einer neuen quasi-aristokratischen Oberschicht gleichsetzen. Klaus muss als Wirtschaftswissenschaftler entsprechende Statistiken kennen, welche die gigantische Umverteilung von unten nach oben nachweisen, seit diese Wirtschaftsrezepte der Chicagoer Schule (Milton Friedmann) angewendet werden. (z.B. in den USA seit den Reaganomics, in Großbritannien seit Thatcher, in Südamerika: Chile nach dem Sturz Allendes, in Argentinien u. vielen anderen Ländern)
„Im Dezember 2006, einen Monat nach Friedmans Tod, kam bei einer UN-Untersuchung heraus, dass ‚die reichsten zwei Prozent aller Erwachsenen auf der Erde über mehr als die Hälfte des weltweiten Haushaltvermögens verfügen.’ Die krassesten Dimensionen hat diese Umschichtung in den Vereinigten Staaten erreicht, wo 1980 – als Reagan seinem Friedman’schen Kreuzzug startete – im Durchschnitt ein Vorstandsvorsitzender 43-mal so viel verdiente wie eine Arbeiter; 2005 strichen die Unternehmenslenker 411-mal so viel ein.“ (Naomi Klein, Die Schock-Strategie, S. 627)
Für all das ist Klaus offensichtlich blind. Was ihn besorgt, sind verfassungsmäßig festgeschriebene Sonderrechte für bestimmte gesellschaftliche Gruppen (Homosexuelle, Frauen/Feminismus), was er als „Überregulierung“ ablehnt.
Vaclav Klaus schwebt eine EU vorwiegend als freie Wirtschaftunion vor, nicht als enge politische Union. Allerdings dämmerte ihm reichlich spät, dass beide Aspekte nur jeweils Kehrseiten derselben Euro-Medaille sind und er eine Diskussion darüber nur mit sich selbst führen kann: Es finden sich nämlich für Alternativen zum Lissabon-Vertrag überhaupt keine Diskussionspartner mehr. Denn die europäischen Völker wurden ja als Diskussionspartner außen vor gelassen.
Am 20.2.2009 sagte er, der 27-Nationen Block sollte sich mehr um das Angebot von Wohlstand kümmern, denn um eine engere politische Union und den zum Stillstand gekommenen EU-Reformvertrag fallen lassen, da ihn die irischen Wähler bereits abgelehnt hätten. Klaus empört sich insbesondere darüber, dass eine weitere Integration „eine nicht mehr kritisierbare Annahme geworden ist, dass es nur noch eine mögliche und richtige Zukunft der europäischen Integration gibt. Das Aufzwingen dieser Interpretation ist unannehmbar. Diejenigen, die es wagen, über eine andere Option nachzudenken, werden als Feinde gebrandmarkt.“
Daher fühlt sich Klaus auch immer mehr an die Zeiten des Kommunismus erinnert, als die Sowjetunion Osteuropa kontrollierte und Abweichung oder Diskussionen nicht geduldet wurden: „Vor noch nicht allzu langer Zeit lebten wir in unserem Teil Europas unter einem politischen System, das keine Alternative und daher auch keine parlamentarische Opposition zuließ. Wir haben die bittere Lektion gelernt, dass es ohne eine Opposition auch keine Freiheit gibt.“Von der gesteuerten Presse wurden diese Einlassungen von Klaus immer verstümmelt wiedergegeben, so als hätte er blindwütig die EU mit der ehemaligen Sowjetunion verglichen, dabei sind seine Ausführungen vollkommen nachvollziehbar.
Auf einem Festakt zum 91. Jahrestag der Staatsgründung Tschechiens warnte Klaus am 29.10.2009 denn auch vor dem erneuten Verlust der staatlichen Souveränität. Zwanzig Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktatur würden durch die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages erneut die Entscheidungskompetenz in wichtigen Fragen „ an eine fremde politische Macht“ abgegeben. „Es kommt zu einer gefährlichen Erosion der Staaten im Zusammenhang mit der fortschreitenden europäischen Integration. Auch deshalb nehmen die Leute den Staat und seine Institutionen nicht mehr als etwas wahr, auf das man sich verlassen kann.“
Klaus erhielt durchaus nicht nur Kritik, sondern auch Beifall aus anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks.
So schrieb die slowenische Tageszeitung Vest (Elena Pecaric) am 13.10.2009:
“Wir dürfen nicht zulassen, dass Politiker, die uns dienen sollen und uns gegenüber verantwortlich sind, die ihnen gegebene Macht selbst definieren, verändern oder vergrößern, ohne das Volk miteinzubeziehen. Die gewählten Volksvertreter sind nicht die Eigentümer der Volkssouveränität. Sie haben kein Recht, Zuständigkeiten und Verantwortungen der Institutionen eigenmächtig zu ändern … . Das, was während der langen Geschichte des Verfassungsvertrags passiert ist und die darauffolgende Metamorphose zum Lissabon-Vertrag ist ein großer Machtmissbrauch seitens der EU-Politiker auf Kosten und zu Lasten ihrer Bürger, also aller. Das dürfen wir nicht vergessen. Die systematische und geplante Blockade unseres Rechts, uns in den einzelnen Ländern bei einem Referendum dafür oder dagegen zu entscheiden, sowie der große Betrug in Irland sind ein Beweis dafür, dass die EU-Vertreter die Macht an sich gerissen und ihre eigene Legitimität untergraben haben.”
Dem ist nichts hinzuzufügen.
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