Der Friedhof der Stadt ist eine eigene Stadt mit einer endlosen Friedhofsmauer aus Ruhestätten in allerlei Stilarten, mit neugotischen, klassizistischen oder Jugendstilelementen, zwei bis drei Kilometer lang mindestens, schätze ich, ihn zu umrunden dauert ungefähr eine Stunde, er umfasst ein repräsentatives Verwaltungsgebäude aus leuchtenden, rostroten und dunkellila Klinkern, eine verfallene zierliche Kapelle, mehrere Eingänge mit Torbögen; an seinen Rändern beginnt er auszufransen und sanft in Wald überzugehen, immerhin sieht man die Grabsteine und Steinmetzarbeiten noch gut, wenn sie sich auch bereits neigen und Namen nicht mehr zu erkennen sind.
Schon als Kind mochte ich Friedhöfe, wegen der geheimnnis-vollen Stille, der hohen Bäume und den hin und wieder geflüsterten Erklärungen zu einzelnen Stätten und Grabplatten; ich glaube, hier bekam ich schon als Fünfjährige anhand besonders kurzer Lebensdaten ein Gespür für die Katastrophen der Geschichte: Geschichte als die große Zermalmerin, so wie es einem meiner Vorfahren widerfuhr, der als Kind in den Transmissionsriemen eines Walzenstuhls geriet.
Der kleinere, unterhalb liegende, noch wesentlich ältere, frühmittelalterliche Nicolaifriedhof ist wie eine Filmkulisse der Vergänglichkeit, es finden sich unzählige Insignien des Todes, aber auch der Ewigkeit und Auferstehung. Hier liegt auch irgendwo das Grab des Mystikers Jacob Böhme.
Spaziergänge über den neueren Friedhof aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, dessen Mauern nun wie ein zu großer Mantel um ihn schlottern, sind eine Meditation über Vergänglichkeit, das Vergehen von gesellschaftlichen und familiären Strukturen, von Reichtum, Bügertum bis zum Vergehen von Individualität und der Wiederkehr des anonymen Massen- oder Gemeinschaftsgrabes.
Die im 19. Jahrundert geborenen Verstorbenen betteten sich noch in üppig-pomösen “Familienruhestätten”oder Grüften, oftmals sogar Sakophargen, neben den Lebensdaten werden der Rang oder die Verdienste erwähnt. Altägyptische Symbolik, chistliche Skulpturen, Psalmen, Sätze aus Evangelien, Engel, Jungfrauen, Heidnisches, Sonnen, freimaurerische Zirkel und Winkel.
Gedenktafeln erscheinen während der Kriege, da die Familien nichts Materielles mehr von ihren Angehörigen hatten, was hätte bestattet werden können, so wie jene Mutter, die zwei Tage nach Kriegsende, am 9.5.1945, fünf Kinder verlor; die kleine Gedenktafel wirkt angesichts des Ausmaßes der Vernichtung verloren. Die Zeit der triumphalen, aber auch nachdenklichen Familiengrüfte scheint vorbei.
Die Gräber werden in den letzten sechzig Jahren kleiner, unscheinbarer zusammen mit abnehmenden Wohlstand, sinkender Bevölkerungszahl durch Kriegsfolgen, politischen Umbrüchen, um die alten Gräber kümmerte sich kaum noch jemand, es gab niemanden mehr, der sich hätte kümmern können, der Verfall schien unaufhaltsam.
Die großen Grabanlagen direkt an der Friedhofsmauer werden jetzt nach und nach wieder instandgesetzt: Es gibt eine neue Form des Gemeinschaftsgrabes: Es ist ein Urnenplatz, eine Erinnerungstafel vermeldet nur noch Namen und Lebensdaten, keine Titel, Berufe oder Verdienste; oder nur noch das Geburtsdatum, denn das Sterbejahr ist es, was die Verstorbenen, dort gebetteten, gemeinsam haben, nicht mehr Familienbande. So kann es vorkommen, dass Ehepartner an ganz verschiedenen Stellen liegen, da sie ja meist nicht zufällig im selben Jahr sterben. So ein Gemeinschaftsgrabplatz kostet für 20 Jahre immerhin auch noch 2173,73 Euro.
Gräber, die nicht mehr gepflegt werden und deren einstige Besitzer man nicht mehr bestimmen kann, werden auf eine “grüne Wiese” umgebettet, im Mittelpunkt eine runde Grabanlage mit zwei schweren Steinblöcken, auf denen kleine eingemeißelte Bäume die Jahreszeiten symbolisieren.
Das ist aber noch nicht das Ende der Entwicklung. “Fried-Wälder” sind im Kommen. Man kauft sich im Wald einen Baum und lässt sich dann in einer kompostierbaren Urne bestatten. Ein kürzlich verstorbenen Onkel tat dies. Friedhofsbesuche erübrigen sich so, man fällt niemandem zur Last, Bestattungskosten und Feierlichkeiten werden auf ein Minimum beschränkt. Wieviele Jahre wird man sich noch erinnern?
Frühere Generationen investierten in ihre Zukunft auch nach dem Tod. Man vertraute in die Familienstrukturen, dachte offensichtlich in Generationen, also Jahrhunderten, setzte Vertrauen in zukünftige Stabilität und Kontinuität. Das ist heute radikal anders. Man misst den Gräbern höchstens noch ein paar Jahre Bedeutung bei, nicht einmal mehr eine Generation lang, also für dreißig Jahre, wird mit Erinnerung gerechnet, mit Erinnerungsvermögen- oder Willen.
Sind die neuen Bestattungsweisen ein Ausdruck von schlichtem Realitätssinn, von Selbstbestimmung, noch über den Tod hinaus? Oder ein Zeichen des Zerfalls, der nur konsequent durchgezogen wird, Zeichen der materiellen und geistigen Verarmung? Ein Verscharren und Verklappen in kompostierbaren oder wasserlöslichen Urnen in Wald und Feld oder auf See? Neuheidnischer Realitätssinn? Oder eher neues Einssein mit Natur und Schöpfer?
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Tags: Fried-Wald, Friedhof Görlitz, Tod