Die Aufhebung des Waffenembargos gegen Syrien durch die EU zeigt überdeutlich, was es mit der gebetsmühlenartig wiederholten Forderung “Europa muss mit einer Stimme sprechen” auf sich hat: Sie entbehrt im Zweifelsfalle jeder Grundlage. Die EU erlaubte den einzelnen Ländern nunmehr, in Sachen Waffenlieferungen wieder für sich selbst zu entscheiden, wie sie sich verhalten möchten. Dieser Erlaubnis hätte es nicht bedurft – der souveräne Nationalstaat ist und bleibt auf absehbare Zeit die entscheidende Referenzgröße.
Wäre da nicht der Friedensnobelpreis, den sich die EU unlängst zuerkannte … Da wirkt das französische und britische Drängen auf Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen schon wie blanker Hohn. Und weckt unliebsame Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit beider Staaten in der Region:

Sykes-Picot-Abkommen 1916: Aufteilung der französischen und britischen Einflusszonen (Quelle: Wikimedia Commons)
Da wäre das geheime Sykes-Picot-Abkommen von 1916, ein Teilungsplan, der festlegte, wie Frankreich und Großbritannien ihre Einflusszonen der arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches unter sich aufteilen wollten. Die Araber wurden hinters Licht geführt, man ließ sie über die Teilungspläne im Unklaren und versprach ihnen großzügig die Befreiung von den Türken und die Souveränität – eine Lüge, die 1918 mit Bekanntwerden des Geheimabkommens öffentlich wurde.
Von 1920–22 sprach der Völkerbund Frankreich dann das Mandat über das Gebiet des heutigen Syrien, des Libanon und der heute türkischen Provinz Hatay zu. Frankreich plante jedoch eine Aufsplitterung seines Mandatsgebietes in sechs kleinere Staaten entlang religiöser Trennlinien, ein großer, selbstständiger Staat war nicht vorgesehen.
Als 1920 Faisal I. ein unabhängiges arabisches Königreich Syrien auf dem Gebiet des heutigen Syrien, Libanon, Palästina und Jordanien errichtete, nahm Frankreich das als Kriegsgrund: Es marschierte mit Truppen ein, stürzte den König und besetzte das Land.
Wenn aktuell darüber diskutiert wird, wie sich die libanesische Hisbollah erfrechen könne, in den Krieg in Syrien einzugreifen, so sollte man wissen, dass sich Syrer und Libanesen zuerst als Araber fühlen und auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken. Die Grenzen haben europäische Mächte gezogen!
Hassan Nasrallahs Begründungen sind dabei völlig nachvollziehbar: Der Chef der Hisbollah-Partei fürchtet nach einer möglichen Übernahme Syriens durch Amerikaner, Israelis und Takfiris (sunnitisch-islamistische Fanatiker) Auswirkungen auf sein Land und einen Einmarsch Israels in den Libanon (siehe Israels Bombardierung des Libanons von 2006, 1100 Tote, meist Zivilisten). Die Hisbollah wirkt aktuell vorwiegend im libanesisch-syrischen Grenzgebiet dem Einsickern von bewaffneten Banden und Waffen entgegen. Der Libanon war von Anfang an vom Krieg um Syrien mit betroffen: Schon vor Beginn des “arabischen Frühlings” hatte z. B. die NRO “Avaaz” Schmuggelrouten vom Libanon nach Syrien eingerichtet, wie mein Artikel “Avaaz.org und der geheime Informationskrieg um Syrien” bereits im April letzten Jahres nachwies.

1925: Massenhinrichtungen von syrischen Aufständischen durch französische Truppen (Quelle: Wikimedia Commons)
1925 kam es im heutigen Libanon und Syrien zur Syrischen Revolution gegen die französische Besatzung und ihre Teilungspläne. Auch hier – ein Stück gemeinsamer Geschichte. Der Aufstand gegen Frankreich wurde vor allem von syrischen Drusen getragen, dann aber auch von Sunniten, Schiiten und Christen. Französische Truppen richteten in der Folge ein Blutbad, vor allem unter drusischen Zivilisten, an. Man versuchte verstärkt, das Land in seine religiösen Gruppen zu zerlegen, um dem sich ausweitenden Aufstand Herr zu werden. Doch die Araber gewannen Damaskus zurück.
Man sieht: Der Versuch, Länder entlang ihrer religiösen oder konfessionellen Grenzen zu spalten (divide et impera!), ist beileibe keine Erfindung des 21. Jahrhunderts! Schon damals widerstanden die Syrer diesen Versuchen.
Westliche Medien wollen uns penetrant glauben machen, in Syrien stehe man seit über zwei Jahren gegen die Herrschaft der Alawiten auf. Dabei machen diese in der Wehrpflichtarmee Syriens höchstens 25 % aus. Die syrische Armee ist daher weniger eine “Assad-Truppe” (westliche Medien) als ein Spiegel des religiösen und ethnischen Mosaiks des Landes. Beide al-Assad Brüder (Baschar und Maher) sind zudem mit Sunitinnen verheiratet. Assads Minister sind ebenfalls verschiedener Glaubenszugehörigkeit. Das religiöse Argument zieht also nicht wirklich und verstellt den Blick auf eine klare Analyse. Syrien ist der letzte wirklich säkulare Staat im Nahen Osten.
Im syrischen Revolutionsjahr 1925 erprobte Frankreich den “schmutzigen Krieg” zur Aufstandsbekämpfung, was die damalige Kolonialmacht später in Algerien und Indochina wiederholte: Man setzte schwere Waffen in Stadtgebieten ein, führte Massenhinrichtungen und Verteibungsaktionen durch und ließ schließlich Damaskus bombardieren.
Erst 1936 stellte ein Vertrag mit Frankreich Unabhängigkeit in Aussicht, das Abkommen scheiterte jedoch im französischen Parlament. Als im Zweiten Weltkrieg nach dem deutschen Sieg gegen Frankreich die französische Verwaltung Syriens sich auf die Seite des Vichy-Regimes stellte, marschierten britische und französische Truppen erneut in Syrien ein und erklärten es dann für unabhängig, die Anerkennung durch weitere Staaten erfolgte. Frankreich ließ von seiner “Beute” jedoch immer noch nicht ab, die letzten Truppen verließen erst 1946 das Land.
Man fragt sich, wo angesichts dieser aggressiven europäischen Vergangenheit heute eigentlich die Kultursensibilität Frankreichs und Großbritanniens gegenüber Syrien geblieben ist.
Die Aufhebung des Waffenembargos der EU ist ein bedeutsamer Tabubruch, werden doch erstmals EU-Staaten ganz offen zur Kriegspartei, zumindest der Ankündigung nach. Was bisher eher abseits der Öffentlichkeit geschah, wird nun ganz offen befürwortet: Waffenlieferungen in Krisengebiete. Österreich, das mit UN-Friedenstruppen auf den syrischen Golanhöhen steht, hatte einen Brandbrief an die übrigen EU-Staaten geschrieben, der in den Medien völlig unterschlagen wurde. Lediglich die österreichische “Presse” berichtete: “‘Die Lieferung von Waffen an die syrische Opposition wäre ein Bruch von Völkerrecht und EU-Recht’, heißt es in einem österreichischen Positionspapier. So wird etwa darauf verwiesen, dass die EU im Jahr 2008 auf strikte Kriterien bei Waffenexporten zum Schutz von Zivilisten und gegen ein Übergreifen auf benachbarte Regionen vereinbarte.“ Die “Syrische Nationale Koalition” habe sich auch von der al-Kaida-nahen al-Nusra-Front nicht ausreichend distanziert.
Dass die EU sich nicht an die eigenen Gesetze und Abkommen hält – wen könnte das wirklich erstaunen?
Die Pro-Rebellen-EU-Staaten sind Großbritannien, Frankreich, Italien und Zypern (ausgerechnet! Möchte man sich mit Waffenlieferungen sanieren?); die Rebellen-kritischen EU-Staaten führt Österreich an, mit Finnland, Schweden, Tschechien und Rumänien. Deutschland tendiert ebenfalls eher zu dieser Position, kann sich aber wie immer große Abweichungen von der US-Linie nicht leisten. Außenminister Westerwelle beschränkte sich daher auf eine “Vermittlerrolle”; Verteidigungsminister de Maizière rang sich jedoch durch: “Wir halten nichts von Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen. Man müsste ja nie wieder über deutsche Rüstungsexporte in Spannungsgebiete reden, wenn wir hier sozusagen in einen Konflikt hinein Waffen liefern.“
Die peinliche Situation der zerstrittenen EU führte zu einer deutlichen Rüge durch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay. “Die Botschaft von uns allen sollte dieselbe sein: Wir werden diesen Konflikt nicht mit Waffen, Munition, Politik oder Religion unterstützen.”
Für Syrien könne es keine militärische, sondern nur eine politische Lösung geben, sagte Pillay während einer Sonderdebatte des UN-Menschenrechtsrates.
Damit liegt Pillays Forderung nahe bei der der “alternativen Freunde von Syrien”, die sich jetzt zu einer Konferenz in Teheran trafen. Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi rügte die EU offen: “Staaten, die sich zu Demokratie bekennen und sich als Unterstützer des syrischen Volkes positionieren, müssen Voraussetzungen schaffen, unter denen das syrische Volk demokratische Wahlen durchführen und über seine Zukunft entscheiden könnte”, so Salehi, der auch die Aufhebung des EU-Waffenembargos scharf verurteilte. Die Versorgung der syrischen Rebellen mit Geld und Waffen würde den Konflikt schüren.
Der Iran lehne jede Einmischung in den Syrien-Konflikt ab und unterstütze eine friedliche Lösung. Dafür müssten die Weltgemeinschaft und vor allem die Nachbarstaaten Syriens gemeinsam Schritte unternehmen, um die Finanzierung der bewaffneten Gruppen in Syrien und das Eindringen von Kämpfern aus dem Ausland zu unterbinden.
An der „alternativen“ Syrien-Konferenz in Teheran nehmen Vertreter aus 40 Staaten sowie Delegationen der Vereinten Nationen, internationaler Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen teil, meldete die russische Nachrichtenagentur Rianovosti.
Die Konferenz zeigt, dass die westlichen Staaten in der Region zunehmend Konkurrenz durch eine wesentlich konzisere, rationalere Politik bekommen, die bereits ihren eigenen Magnetismus entwickelt.
Die EU steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Syrien-Politik. Untereinander zerstritten, betreiben vor allem Großbritannien und Frankreich eine an die alten imperialistischen Zeiten erinnernde Politik, die sich lediglich von der früheren dadurch unterscheidet, dass sie mit hochmoralischer Rhetorik verkauft wird.
Vergangenen Montag überfielen Angehörige der “Freien Syrischen Armee” aus Rache wegen der Erfolge der syrischen Arme in al-Kusair eine kleine Ortschaft namens al-Duvair (Duwair) in der Nähe von Homs unweit der libanesischen Grenze. Sie verwüsteten die Ortschaft und töteten alle christlichen Bewohner einschließlich Frauen und Kindern. Die syrische Armee kam zu spät und konnte das Blutbad nicht mehr verhindern, tötete aber einige Dutzend FSA-”Rebellen” in Kämpfen.
Diesen “Rebellen” sollen nun noch mehr Waffen geliefert werden. Großbritannien und Frankreich (und Italien wie es scheint) sind bereit, für ihre Egoismen das europäische Ansehen zu beschädigen. Ihre angekündigte Politik wäre zumindest dement, wenn nicht verbrecherisch.
Islamistische “Rebellen” zerstören einen historischen Schrein Abrahams in der syrischen Provinz Rakkah in Syrien. Abraham ist der Gründervater der drei monotheistischen Weltreligionen (Christentum, Islam, Judentum).
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