Archiv für die Kategorie ‘Tagebuchausriss’

Den Drachen töten

Samstag, 12. Januar 2013

Die russich-orthodoxe Kirche des Heiligen Simeon vom wunderbaren Berge zu Dresden. Quelle: wikimedia commons.

Die Kirche scheint wie aus Raum und Zeit herausgefallen, eine Insel von Bäumen gesäumt. Ringsherum nichts als Plattenbauten. Die russisch-orthodoxe Kirche des Heiligen Simeon vom Wunderbaren Berge zu Dresden steht einsam und liebreizend mit ihren fünf himmelblauen, glänzenden Kuppeln, die Christus und die vier Evangelisten symbolisieren, die Zwiebelkuppeln von Goldkreuzen gekrönt, die auf einer goldenen Mondsichel zu ruhen scheinen und von vier Goldketten gehalten.

Die rundlichen Türme wiederholen sich in den tropfenartigen Ziergiebeln, den Kokoschniki. Ich betrete die Kirche: Ein angenehmes Dunkel bringt das Gold der lebensgroßen Ikonen, die den Kirchenraum vom Allerheiligsten trennen, zum Leuchten. Ich ziehe die warme Luft der Bienenwachskerzen ein. Der Heilige Michael hat es mir besonders angetan: Mit mächtigen dunklen Schwingen und einem Schwert fest in der rechten Hand steht er da wie ein Versprechen: Einzugreifen – im entscheidenden Moment gegen den Drachen der Lüge, der Verwirrung, des Chaos. Ich fühle mich er-baut.

Die Ikonen malte der Engländer James Marshall in der 1872 von dem deutschen Architekten v. Bosse geschaffenen Kirche, der auch die deutsche Kirche in St. Petersburg erbaute. Rachmaninow, Turgenjew, Bakunin besuchten sie, Dostojewksi ließ seine Tochter hier taufen.

Im Feuersturm des Februar 1945 verwandelte sich die Umgebung der Kirche in eine Trümmerwüste, einzig die Kirche überlebte die Apokalypse, zusammen mit 200 Menschen, die sich dorthin geflüchtet hatten. Ein wahrhaft besonderer Ort!

Baumfrevel

Montag, 03. Dezember 2012

Ich wollte das Grab meiner Mutter besuchen, ging die gewohnten Baumreihen entlang und hielt nach ein paar Biegungen inne: Irgendetwas stimmte nicht; also noch mal von vorne. Wieder hielt ich irritiert an, ließ die Blicke hin und her schweifen. Nach ein paar sinnlosen Pendelbewegungen überkam mich die Erkenntnis:

Der schöne Lindenbaum mittleren Alters vor der Grabstelle fehlte. Am Boden nur ein Stumpf, ich sah die saubere Schnittstelle, keine braunen Flecken, Fäulnis, Hohlraumbildungen. (weiterlesen…)

Kriegsmeldung des Tages

Samstag, 03. Dezember 2011

Noch im Halbschlaf stolperte ich die Treppe hinunter und sah verschwommen die Tageszeitung auf der Treppe liegen, „45.000 Koblenzer werden evakuiert… Bomben … starke Beeinträchtigung …“. Die Verarbeitung der Information durch meine Synapsen erfolgte schleppend und ich fragte mich, was da passiert sei.

Kriege lösen die zeitliche Abfolge der Dinge auf. Die Nachricht war irgendwie aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

Die Folgen des zweiten Weltkriegs sind jetzt noch immer zu spüren – täglich, verändern die Vergangenheit, beeinflussen die Gegenwart und wirken in die Zukunft. Sie lösen Linearität auf.

Die 1,8 Tonnen Bombe war vor 66 oder 67 Jahren in den Rhein gefallen, auch nach Jahrzehnten kann sie theoretisch noch explodieren. In Wahrheit hören die Folgen von Kriegen nie auf.

Materielle Schäden, körperliche und seelische Verkrüppelungen, die sich in die nächsten Generationen hineinvererben. (weiterlesen…)

EU vor Machtergreifung: Finanzdiktatur gefordert

Donnerstag, 28. Juli 2011

Bereits in meinem Beitrag “ESM oder die bevorstehende Entkernung der Rechte des Bundestages” ging es um das Thema des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Das Budgetrecht – ein Herzstück des Parlamentarismus – wird den nationalen Parlamenten im Prinzip entzogen und an die ESM-Verwaltungsbehörde, sprich das neue Superfinanzministerium in Brüssel, gegeben werden, falls eine relevante Öffentlichkeit nicht aus ihrem Koma erwacht.

Die ESM-Behörde kann sich unter Umgehung der nationalen Parlamente nach Gutdünken aus den eingezahlten Geldern und Bürgschaften bedienen, allen voran die, welche durch Deutschland zur Verfügung gestellt wurden. Eine Machtergreifung der neuen EU-Superbehörde, ein Riesenschritt hin zur EU-Finanzdiktatur?

Die Euro-Krise ist so gefährlich, nicht weil der Weiterbestand des Euro gefährdet werden könnte, sondern weil sie von bestimmten Politikern genutzt wird, um die Axt an die Wurzel der Demokratie und der Selbstbestimmung der Völker zu legen. (weiterlesen…)

Nutznießer der norwegischen Anschläge und Antworten aus dem “2083 … Manifest”

Dienstag, 26. Juli 2011

Kaum sind die Toten der norwegischen Anschläge begraben, stellen die ersten Politiker bereits Forderungen und suchen Kapital aus dem furchtbaren Ereignis zu schlagen: Allen voran Hans-Peter Uhl (CSU) und der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich, welche die vom Bundesverfassungsgericht untersagte Wiedereinführung der verdachtslosen Datenspeicherung fordern.

„Im Vorfeld muss die Überwachung von Internetverkehr und Telefongesprächen möglich sein. Nur wenn die Ermittler die Kommunikation bei der Planung von Anschlägen verfolgen können, können sie solche Taten vereiteln und Menschen schützen“, sagte Uhl  (CSU) gestern der „Passauer Neuen Presse”. (weiterlesen…)

Gang über den Görlitzer Friedhof

Donnerstag, 06. Januar 2011
Teilansicht Görlitzer Friedhof

Teilansicht Görlitzer Friedhof

Der Friedhof der Stadt ist eine eigene Stadt mit einer endlosen Friedhofsmauer aus Ruhestätten in allerlei Stilarten, mit neugotischen, klassizistischen oder Jugendstilelementen, zwei bis drei Kilometer lang mindestens, schätze ich, ihn zu umrunden dauert ungefähr eine Stunde, er umfasst ein repräsentatives Verwaltungsgebäude aus leuchtenden, rostroten und dunkellila Klinkern, eine verfallene zierliche Kapelle, mehrere Eingänge mit Torbögen; an seinen Rändern beginnt er auszufransen und sanft in Wald überzugehen, immerhin sieht man die Grabsteine und Steinmetzarbeiten noch gut, wenn sie sich auch bereits neigen und Namen nicht mehr zu erkennen sind.

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Schon als Kind mochte ich Friedhöfe, wegen der geheimnnis-vollen Stille, der hohen Bäume und den hin und wieder geflüsterten Erklärungen zu einzelnen Stätten und Grabplatten; ich glaube, hier bekam ich schon als Fünfjährige anhand besonders kurzer Lebensdaten ein Gespür für die Katastrophen der Geschichte: Geschichte als die große Zermalmerin, so wie es einem meiner Vorfahren widerfuhr, der als Kind in den Transmissionsriemen eines Walzenstuhls geriet. (weiterlesen…)

Sahnejoghurt – wie immer (Tagebuchausriss)

Dienstag, 06. April 2010

Ich habe alles vorgefunden, als wäre es gestern: Freude und Bedauern. Die Zeit muss ein Karussell gewesen sein mit einem Mittelpunkt, um den die Ereignisse glitten oder ritten oder war es vielleicht umgekehrt? Der Mittelpunkt kreiste um Dinge? Denn es gibt keinen erkennbaren Fortschritt, zumindest nicht linear. Scheinbarer Stillstand im Zentrum ängstigt mich, aber auch in der Peripherie.

Ich finde die rote Iris wieder, und es war gestern, ich finde ein neues, aufgegebenes Nest – leer, weil der Spalt zwischen Deckenbalken und Rollo zu schmal ist für irgend etwas Rundes, wie gehabt; die in einem offenen Betonkasten gefangen gehaltene Jagdhündin , die ca. viermal im Jahr zur Jagd herausgeholt wird, ist wie immer um diese Zeit mit Jungen niedergekommen – sie hat wieder aus ein paar Sägespänen versucht, ein Art Nest zu machen und ihre Jungen gesäugt, bis der Besitzer wie immer Ende der Woche zum Säubern des „Schweinestalles“ erschien und die Jungen gleich mit ausmistete. Seitdem hat die Hündin wie immer um diese Jahreszeit Fieber und Schüttelfrost, ein Gesäuge wie ein Felsbrocken und kriecht und windet sich vor Angst wie ein zertretener Wurm am Boden, den Schwanz soweit eingeklemmt, dass er unter der Brust herausragt.

Erneut stehe ich ratlos vor dem Verschlag und starre auf das dicke Vorhängeschloss. Selbst wenn es sich zertrümmern ließe, wäre es ein Einbruch. Und niemand braucht nervöse Jagdhunde, am wenigsten ich selbst.
Daher hole ich wie immer 10%igen griechischen Sahnejoghurt und schiebe ihn täglich unter dem Gitter durch. Vor Freude und Gier zerrt und beißt die Hündin in das Töpfchen, um es schneller hereinzuziehen, dabei verschüttet sie wie immer die Hälfte über ihren eigenen Kothaufen und in den feuchten, uringetränkten Sägespänen – aber es wird der Höhepunkt des Tages sein, auch ein leerer Joghurtbecher ist Ablenkung  und er kann wie immer nach allen Regeln der Kunst vollständig zernagt werden.

Mein Entsetzen gerät irgendwie zur Routine und die Routine ist nah an der Langweile. Angeödet frage ich mich, warum es immer noch Menschen gibt, die Hunde mit Schweinen, Schweine mit Hunden und beide mit geistlosen, zur Vernutzung und Verschleiß gedachten Gebrauchsgegenständen und sich selbst mit Menschen verwechseln.

Wie immer beehrt mich meine Katze Minze alle zwei Jahre um diese Jahreszeit – ein untrügliches Zeichen, dass die Ernährungslage hoffnungslos ist. Minze mit ihren grünblitzenden Augen genießt meine heimliche Bewunderung. Ein Ebenbild von Unabhängigkeit, Freiheitsliebe und Wildheit, manchmal Jahre unauffindbar, besonders, wenn ich mich mit Kastrationsgedanken trug, dann wieder aufgetaucht, als wäre alles gestern gewesen, schnurrend zu Zärtlichkeiten aufgelegt. Sie tut herum, ihren Schwanz  und ihr Hinterteilchen hoch aufgereckt, so als bedürfte es noch eines Hinweises darauf, was inzwischen mal wieder geschehen ist. Ich krame aus meinen Vorräten zwei Patébüchsen und ein Töpfchen griechischen Sahnejoghurt hervor. Minze frisst, schlingt und schleckt in rasendem Tempo und bleibt schließlich noch ein Weilchen benommen sitzen, um nicht zu bersten. Am nächsten Tag ist ihr Bauch um exakt den Umfang der zwei Dosen und des Töpfchens gewachsen.

Ich spähe nach oben und versuche im Dachgiebel das Einflugsloch der Bienen ausfindig zu machen, die mein Haus nun schon im dritten Jahr erfolgreich in einen Bienenstock verwandeln. Ich versuche mir auszumalen, wie es wohl da drinnen aussehen mag. Ich kann, mal wieder, nur mutmaßen. Irgendwie hatte ich erneut gehofft, die Bienen hätten den kalten, feuchten, wie-auch-immer Winter nicht überlebt – aber nein, da sind sie, wie immer geschäftig an der Arbeit. Es kann kein großer Stock sein, denn ich überhöre ihr „Aufstehen“ morgens um ca. 7:30 regelmäßig. Und abends wecke ich mit meiner Leselampe höchstens mal eine Biene, die aufgeschreckt durch die Decke gebrummt kommt und manisch das Licht umsummt, sodass ich unweigerlich meine Lektüre unterbrechen, wie immer zum bereit liegenden Lappen greifen und die nervtötende Summerin nach draußen befördern muss. Das hysterische Gebrumm und die Unterbrechung meiner wohligen Voreinschlafphase machen mich wütend. Doch immer wieder besänftigt mich der Gedanke an die vielen göttlichen Momente meines Lebens, die mir diese betriebsamen Wesen schenkten: mit schimmerndem, piemontesischen Akazienhonig, den ich mir zum Frühstück über ein par dicke Haferflocken, griechischen Joghurt und geschnittene Kiwis, Bananen, roten Pampelmusenstücken und Äpfel tropfen ließ, oder mit karamellartigem, zartgelben französischen Lavendelhonig, der, Ton in Ton, ein dick bestrichenes Butterbrot ziert oder der leicht harzige, dunkle Amazonashonig aus Brasilien, der irgendwie nach Orchideen, bunten Papageien und riesigen Urwaldpflanzen schmeckt.
Da ist es ja wohl das Mindeste, dass ich diesen Urheberinnen meines Honigglücks mein Haus als Refugium zur Verfügung stelle.

Dieses kleine Opfer muss es mir ja wohl – wie immer – wert sein.

Totensonntag (Tagebuchausriss)

Sonntag, 29. November 2009

Im elften Monat des Jahres verliert das Licht endgültig den Kampf gegen die Dunkelheit, und es wächst eine Trauer über den zunehmenden Verlust des Hellen.

Der Totensonntag stand ganz unvorhergesehener Weise im Zeichen von Klang, Ton, gibt es da noch ein drittes Wort?

Bei Schloss Hamborn begann es völlig unerwartet mit dem Spiel zweier Sopranleiern, einem Stück von Max Gross. Die Leier, dieses so zerbrechlich und exquisit klingende Saiteninstrument, das auch die Griechen spielten, ist dem Wind ähnlich, wenn er in hängende Klangstäbe oder Röhren greift, ein Windspiel eben.

Das Zusammenspiel der Leiern entwickelte einen kristallinen Zweiklang, ein Zwiegespräch beider Instrumente, zart, bescheiden und kostbar. Ich vermute, dass sogar der Komponist selbst eine der Leiern spielte. Das war die eine Seite von Klang. Wie mit Zustimmung des Zufalls dargereicht und mehr unter der Oberfläche wirkend, die Komposition wollte nicht alles zeigen und hörbar machen, nur andeuten, das meiste blieb im Innern des Zuhörers zu tun, so wie im Winter ja auch das meiste unter der Oberfläche spielt. Ich war dankbar dafür, solche Klänge sicher noch nirgends sonst gehört zu haben, was mir zugleich bekräftigte, dass die Musik nie aufhören wird.

Der Hohe Dom zu Paderborn

Der Hohe Dom zu Paderborn

Dann noch schnell den Paderborner Dom besichtigen, aber der Titel „Hoher Dom zu Paderborn“ hätte es mir schon ankündigen können: Nach dem Abendmahl setzte ein Orgelgetön ein, ein Orgelbrausen, das ich überhaupt noch nie und nirgends so erlebt hatte – außer vielleicht als inneren Zustand – und was vor Augen und Ohren hielt, dass die Orgel, auch, weil sie mit dem ganzen Körper gespielt werden muss, das gewaltigste und sinnenhafteste unter den Instrumenten ist; denn sie lässt keine Zelle des Körpers unberührt, verschont nichts und niemanden und zieht alles in ihr Beben, ihr Orgeln, keine Ecke, kein Fleck des Kirchenschiffs kann sich ihr entziehen. Sie macht neu, denn sie taucht alles in ihr unerbittliches Klangbad.

Der Hohe Dom zu Paderborn besitzt als Sinnbild der Dreifaltigkeit auch eine dreifältige Orgel: Eine Turm-, eine Chor- und eine Kryptaorgel. Ich vermute, dass an diesem Abend die Chororgel gespielt wurde, die sich über dem Altar befindet. Ich weiß nicht, wer der Organist war, ihn kann natürlich nicht der Teufel geritten haben, auch kann er nicht einen Heidenspaß gehabt haben, bei dem, was er uns da angedeihen ließ. Ich glaube nicht, dass es das gewöhnliche kirchliche „Abendgeschäft“ gewesen ist, eher eine Art heiliger Anfall oder Eifer, mit dem er sich über seine Orgel und diese sich über uns hermachte, ein machtvoller Moment jedenfalls, in dem er uns nach allen Regeln der Tonkunst bearbeitete. (weiterlesen…)

Wal-fahrt-nuss; Tagebuchausriss

Freitag, 30. Oktober 2009

Jedes Jahr im Oktober pilgere ich zu einem großen Walnussbaum, der nur von mir beachtet zu werden scheint. Sehr oft war das Wetter widrig, langer Regen zum Beispiel ließ die Nüsse feucht werden, aufweichen und alles mögliche Getier interessierte sich schnell für den köstlichen Inhalt der harten aber nicht unüberwindlichen Schale. Dieses Jahr bin ich goldrichtig.

Es hat nur ein Mal geregnet. Das hat die fast apfelgroßen grünen Außenschalen aufplatzen lassen. Ein ovales Guckfenster zeigt einen zartbraunen Inhalt. Man braucht nur noch hineinzugreifen und aus einem feinen, weißen, dehnbaren Haarnetz die harte, fast völlig trockene Nuss langsam herauszulösen. Perfekt.

Jeden Abend kehre ich mit einer riesigen, schweren Tüte nach Hause. Das wird noch tagelang so gehen, wenn nichts dazwischen kommt. Die Nüsse sind so groß, dass sie in keinen meiner Nussknacker hineinpassen. Das Aroma ist unvergleichlich besser als das fade, bittere der „goldenen“, geschwefelten „Jumbos“ aus Kalifornien, die dann demnächst in den Supermarktregalen liegen werden.

Ein paar dieser Nüsse stellen zusammen mit einem Apfel, Kakis oder Granatäpfeln eine Mahlzeit mit einem stundenlangen Sättigungseffekt dar. Solange Obst aller Art und Nüsse tonnenweise verfaulen, kann es offensichtlich keine Krise geben, außer der, dass der Sammel- und Erntetrieb im Herbst zusammen mit dem Bückreflex bei einer Mehrheit von Zeitgenossen vollständig verkümmert sein muss.

Umso ungestörter kann ich ungesehen unter den bis auf die Erde reichenden Ästen des Walnussbaumes in Ruhe meinen Leidenschaften frönen: Ich halte meine Nase in die glatte, grüne Walnussaußenhaut und inhaliere immer wieder. Eine unwiderstehliche Duftkomposition: Grundnote ist ein sattmachender, selbstzufriedener, herb-runder Geruch, darunter liegt stützend eine gewisse Strenge, die Kopfnote ist frisch-duftig, entfernt edel-süß. Eigentlich ein perfekter Männerduft, den man unbesehen in einem Flakon veredeln könnte. Name: Einfach Walnuss oder trendiger: Wolnat. Ein Vorschlag für Hermengildo Duzzi und Massimo Bazzi…

Da fällt mir auf, dass diese Duftkomposition auch für die knappe Beschreibung eines (in meinen Augen) interessanten Mannes zutreffen würde:

Wenn man zur rechten Zeit vorbeischaut, gewährt er unaufdringlich gewisse Einblicke in sein Innenleben, zunächst bemerkt man eine ziemlich harte, aber eben doch nicht undurchdringliche Schale, dann ersteinmal eine gewisse Strenge, die Unterhaltung ist interessant, es gibt einige frische Ideen preis, ohne geschwätzig zu werden, umgibt sich mit einer herb-männlichen Aura. Bisweilen sogar einladend, aber, wenn er Emotionen oder Inneres preisgibt, nie süßlich.

Wie alles enden wird? Vermutlich, wenn alles goldrichtig ist, hole ich irgendwann mein halbmondförmiges Nussmesserchen heraus und öffnen vorsichtig die harte Schale, indem ich am empfindlichen Nussnabel ansetze. Und dann sehe ich sein unvergleichlich köstliches und reichhaltiges Inneres. Es macht mich zufrieden. Es reicht für den Rest des Lebens. Sattmachend. Aber nicht, was meinen Magen angeht, für diesen sorgen schon die Walnüsse.

Strandbegebenheit (Tagebuchausriss)

Donnerstag, 18. Juni 2009

Auf dem Bauch liegend blinzelte ich über die kleine Sanddüne hinunter zum Meer, und ich nahm eine junge Frau wahr, die einen ausgemergelten, ausgezehrten, aber sehr durchtrainierten Körper hatte. Die junge Mutter kümmerte sich vor allem um das jüngste ihrer vier Kinder. Ab und zu sprang in meinen begrenzten Bildausschnitt ein kleines Kerlchen mit einem dicken Windelpaket an den Händen der Mutter aus dem Wasser in die Luft. Ich beobachtete es, wie das Springen von Fischen oder das Fliegen der Möven.

Nach ein paar Stunden packte man zusammen, und die Kinder liefen brav in ihren weißen Strandkleidchen hinter der Mutter her.

Ein paar Minuten später änderte sich diese friedliche Formation abrupt. Die Mutter kam mit dem Söhnchen auf dem Arm, die restlichen Kinder hinter ihr laufend, zum Strand zurück. Schweiß lief ihr über das Gesicht. Sie fragte mit amerikanischen Akzent: „Entschuldigung hat irgendjemand eine schwarze Brieftasche gesehen? Ich war gerade im Supermarkt, und sie war nicht mehr in meinem Rucksack.“

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Dunkellila Iris (Tagebuchausriss)

Montag, 06. April 2009

Der Morgen bringt die Entdeckung von dunkelilafarbigen Irissen.

Mit Beginn des Frühlings streife ich morgens über meine Lieblingswiesen, um wie ein botanischer Buchhalter alle mir bekannten Gesichter zu suchen und zufrieden zu begrüßen. Es verleiht Sicherheit, Gewissheit und Genugtuung, dass dies jedes Jahr gelingt. Das freudige Begrüßungsritual ist aber nicht alles: Ich spähe auch nach neuen Gesichter, nach Neuentdeckungen für meine Sammlung.

Und tatsächlich gelingt es mir doch jedes Jahr nach den „großen Ferien“ ein neues Gesicht zu entdecken (weiterlesen…)

Sich Fallenlassen (Tagebuchausriss)

Montag, 30. März 2009

Ich schließe die Augen und lasse mich in den Schoß von Mutter Natur fallen und überreiche der Sonne und dem Wind meine Wunden, mein Zwicken und Zwacken der Seele und des Körpers, kippe den Schalter des ständig kreisenden Verstandes, des pausenlos räsonierenden Bewusstseins, des wandelnden Problems, auf „Aus“, ziehe meine stets wachen Wächter ab und beginne, in die Umgebung zu diffundieren: Bin jetzt nur noch kleine Teilchen, die der Wind durchlüftet, aufschüttelt, verwirbelt, leicht und schwerelos; die Frühjahrssonne erwärmt jedes einzelne von ihnen, solange, bis sie in der Luft flirren.

Die Hunde kennen das schon: Sie schließen sich an: genießen, betten sich geräuschlos auf einem Stein oder rutschen auf dem Rücken die Blumenwiese herunter und grunzen ganz leise dazu. Die Zecken und Ameisen verhalten sich ebenfalls respektvoll und halten etwas Abstand.

Die Frühjahrssonne ist besonders am späten Vormittag uneingeschränkt wunderbar, man kann sich ihr ohne nachzudenken völlig überantworten und blind hingeben. Mit wem könnte man so etwas wohl sonst noch tun? (weiterlesen…)

Wildgänse (Tagebuchausriss)

Samstag, 28. Februar 2009

26./27. Februar … gleichförmige Tage mit wenig Tiefgang, da ich im Moment diesen nicht zulasse. Er liegt dafür sehr oft während des Tages bis in die Abenddämmerung hinein in der Luft:

Ein charakteristisches heiseres Schreien und ein fernes Rauschen zwingen mich, magisch angezogen, an den unmöglichsten Stellen abrupt inne zu halten und nach oben zu starren, denn es ist ein Schauspiel auf der Himmelsbühne zu sehen, eintrittsfrei: Die Rückkehr der Zugvögel, der Wildgänse und Kraniche.

Offenbar ist die Gegend von Bonn am Rhein eine strategisch günstige, denn Zug auf Zug überquert seit gestern den Rhein und zieht nach Nordwesten. Phantastisch; Ordnung und Harmonie aufrechterhalten in stetiger Bewegung und lebendiger Wandlung. Ich beame mich in die letzte Gans des rechten Flugkeils und fliege mit ihr hinter meiner Vordergans. (weiterlesen…)